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Zwischen Fläche und Raum:
Zu Christian Rudolphs Tektoniten

Christian Rudolphs „Tektonite“ entstehen als Resultate spielerischer Experimente, die der Künstler zunächst anhand von Papiermodellen vollführt.1 In einem Abstraktionsprozess trennt er dazu geometrische Flächen – meist Trapeze, aber auch Ovale oder Ellipsen – verformt sie, fügt sie neu zusammen und überträgt das Ergebnis seiner Formensuche in Wandreliefs aus vier Millimeter starkem Aluminiumblech. Zunächst werden mit äußerster Präzision die Oberfläche und die zu Graten erhobenen Verbindungsnähte der Fragmente händisch abgeschliffen. Danach wird die Schauseite der Reliefstruktur bis zu einem Duzend Mal mit einer monochromen Farbschicht lackiert. Diese wird wiederum so lange behutsam abgeschliffen, bis die Oberfläche eine gleichmäßig samtige Mattheit erreicht hat. Nur bei genauer Betrachtung aus nächster Nähe offenbaren sich als Spuren der Bearbeitung feinste Kratzlinien in der Farbe. Wie bei allen Arbeiten sind Christian Rudolph auch bei der Gruppe der „Tektonite“ der künstlerische und der analytisch-technische Ansatz gleichermaßen wichtig und bilden die zwei Ankerpunkte seines bildhauerischen Schaffens.
Bereits der Titel der Werkgruppe der „Tektonite“ verrät einiges über Christian Rudolphs künstlerische Bezugspunkte. Hauptsächlich bezeichnet der aus der Geologie stammende Begriff der Tektonik die Lehre vom Aufbau und von den Bewegungen der Erdkruste. Rudolph nutzt den Begriff hier geschickt als gleichzeitige Anspielung auf den inneren Aufbau seiner Werke.2 Bei den aus zwei oder mehreren Teilen zusammengesetzten Wandreliefs bilden sich je nach Art der Einschnitte zum Teil gegenläufige Bewegungen, die die Grundfläche strukturieren. Die unterschiedlichen Schwingungen treffen sich an den Nahtstellen und bilden „Bruchkanten“, die an abstrahierte geologische bzw. tektonische Verwerfungen erinnern.

Doch wie wirken diese Wandreliefs in ihrer reinen Erscheinung auf den Betrachter? Worin bestehen ihre eindeutigen Charakteristika, die sie als Werkgruppe definieren und somit als Resultate eines einzigen künstlerischen Gedankens oder Konzepts erscheinen lassen? Gemeinsam ist allen Werken der „Tektonit“-Gruppe ihre plastische Erscheinung als Wandobjekte, die sich als elaboriertes Zusammenspiel von räumlicher Flächenverwerfung, Flexibilität und Farbigkeit erweist. Sie bezeugen Christian Rudolphs Wertschätzung für den Fundus der Geometrie und dass er das entsprechende Vokabular für seine künstlerische Arbeit fruchtbar macht. Dafür greift er auf vielfältige Referenzsysteme zurück, zu denen vor allem die historischen Positionen der konstruktiven und der konkreten Kunst gehören – künstlerische Ausprägungen, die vor allem indirekt über die Architektur und das Design unsere Lebenswelt bis heute maßgeblich beeinflussen. Für die Konzeption der „Tektonite“ stehen für Christian Rudolph stets zwei wesentliche Faktoren im Zentrum der Überlegungen: Zum einen die plastische Ausformung der Oberfläche und zum anderen Rudolphs Entscheidung für die farbige Fassung seiner Wandreliefs. Diese beiden Faktoren der Werkgruppe sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.
Im kunstgeschichtlichen Rückblick vermittelte die Falte als Detail eines größeren Zusammenhangs narrative Elemente. Das Faltenmotiv implizierte stets mehr als eine rein gegenständliche Wiedergabe einzelner Falten. Abhängig von ihrer Ausprägung übernahmen Faltensysteme eine Stellvertreterfunktion für abstrakte Inhalte oder unterstrichen den narrativen Charakter einer figürlichen Darstellung. Erst mit dem Aufkommen der künstlerischen Avantgarden zum Beginn des 20. Jahrhunderts und den Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg (Konkrete Kunst, Radical Painting, Minimal Art) wurde die Falte ein Thema der ungegenständlichen Kunst. Bei Pablo Picassos ab 1912 geschaffenen Assemblagen standen Falten bereits in keinem Zusammenhang mehr zu beispielsweise Gewand- oder Hautfalten, sondern dienten dem Künstler vielmehr dazu, zweidimensionalen Werkstoffen zu dreidimensionaler Ausdehnung zu verhelfen. Ab 1914 vollzog Wladimir Tatlin den radikalen Schritt von der gegenständlichen zur ungegenständlichen Skulptur. Picassos Idee reduzierte er auf ihre Essenz: das Hervorwachsen und Sich-Entwickeln des Räumlichen aus der Fläche heraus. So entwickelte Tatlin mit seinen ‚Bild-Reliefs‘ ein eigenständiges plastisches Konzept. Dabei verweigerte er sich im Unterschied zu Picasso gänzlich einer realen Motivik. Die Glas-, Holz- und gefalteten Metallfragmente, die Tatlin gestaffelt und überlagert in den Raum montierte, stellen nichts dar, sondern sind Materialformen im Raum. Damit überwand er bewusst die imaginäre Raumwirkung, die für Picassos Materialmetamorphosen charakteristisch ist.3 1920 erklärten die Brüder Naum Gabo und Antoine Pevsner in ihrem ‚Realistischen Manifest‘ ihr Ziel, „das Volumen der Plastik von der Masse zu befreien“4. 1949, kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, lautete die zentrale Aussage von Max Bills Manifest: „(…) abstrakte Ideen werden in konkreter Form sichtbar gemacht“5. Weiterhin nannte er neben Farbe und Form auch Raum, Licht und Bewegung als gestalterische Mittel und schloss damit auch die Plastik mit ein. Seit den 1960er Jahren erprobten zahlreiche Künstler verschiedenste Materialien durch das Falten der Oberfläche, wobei insbesondere die Frage nach der Materialität in den Vordergrund geriet. Ende der 1960er Jahre nannte Richard Serra „to fold“ an dritter Stelle seiner ‚Verb List‘ (1967/68)6, in der er alle Tätigkeiten aufführte, die für ihn zu den Handlungen und Techniken des plastischen Arbeitens zählen. Beide Künstler betonten auf unterschiedliche Art und Weise, dass sich die Körperlichkeit der Plastik nicht mehr in erster Linie über vollplastische, modellierte oder behauene Volumina bestimmt, sondern als komplexes räumliches Gefüge im gleichberechtigten Zusammenspiel von Flächen, Linien und Raum. Doch während es sich bei den Werken Max Bills wie auch Richard Serras eher um Ideen im platonischen Sinne handelt, also um Ideen, die ursprüngliche, elementare, allgemeingültige und damit objektive Prinzipien und Denkmodelle veranschaulichen, folgen Christian Rudolphs „Tektonite“ in ihren Abwandlungen und Varianten keinen mathematischen und logischen Prinzipien. Sie sind vielmehr Resultate eines subjektiven Findungs- und Gestaltungsprozesses, Ergebnis eines Einfalls, einer Erfindung.

Der zweite Faktor, der Christian Rudolphs „Tektonite“ kennzeichnet, ist der Einsatz von Farbe, also des wesentlichen Mediums der Malerei, genauer der Farbmalerei. Diese ist als Gattungsbegriff zu verstehen, etwa so wie die Porträt- oder Landschaftsmalerei, das heißt, Farbe ist hier selbst Darstellungsgegenstand und nicht nur das Medium einer Darstellung. Farbmalerei zeigt die Farbe selbst, und nichts sonst, insofern als Farbe eine visuelle Gegebenheit mit speziellen Qualitäten ist. Diese sind darin begründet, dass Farbe eben nicht nur ein beliebiges Medium ist, sondern ein visuell wirksamer Energieträger. Farbmalerei lotet und schöpft das energetische Potenzial von Farbe aus. Dabei ist Monochromie ein Sonderfall, der sich des Problems der Farbdarstellung unter Reduktion auf jeweils nur eine Farbe widmet, wobei der Akzent tendenziell von der Farberscheinung auf die Farbmaterie verschoben wird. Die grundlegende Erkenntnis, dass Farbe „konkret“ ist, hatte Theo van Doesburg bereits 1930 in seinen seither immer wieder geradezu als Manifest zitierten „Kommentaren zur Grundlage der Konkreten Malerei“ eindeutig formuliert: „Konkrete Malerei, nicht abstrakte, weil nichts konkreter, nichts wirklicher ist als eine Linie, eine Farbe, eine Fläche. (…) In der Malerei ist nichts wahr außer der Farbe. Die Farbe ist die konstante Energie, sie bestimmt sich durch den Gegensatz zu einer anderen Farbe. Die Farbe ist die Grundsubstanz der Malerei; sie bedeutet nichts als sich selbst. (…) Die Malerei ist ein Mittel, um Gedanken visuell zu verwirklichen: Jedes Bild ist ein Farbgedanke.“7 Van Doesburgs Verständnis des Werkes als Konkretisierung von Ideen ignoriert allerdings die irrationale Natur der Farbe, indem die Farbe unter das Primat der Idee gestellt wird. Damit leugnet van Doesburg also im Grunde das von ihm selbst benannte eigenenergetische Potential der Farbe („konstante Energie“) wie auch die Tatsache, dass jeder Einzelne mit einer Farbe eine je individuelle Vorstellung verbindet. Jeder „Farbgedanke“ entzieht sich damit von vornherein der Ratio. Gut 30 Jahre später, zu Beginn der 1960er Jahre, wird das energetische Potenzial der konkreten Farbe von Josef Albers erneut in den Mittelpunkt künstlerischer Auseinandersetzung gestellt. Albers erkennt, dass Farbe nie isoliert, sondern stets in Relation auftritt und sich keiner Idee unterordnen lässt. In ihr äußern sich vielmehr Eigengesetzlichkeiten, die nicht rational begründbar oder auch nur fassbar sind. Farbe lässt sich nicht ausschließlich mit dem Verstand begreifen, kaum präzise benennen oder gar beschreiben, und sie bedeutet nicht einmal für jeden Betrachter dasselbe, sodass Albers` grundlegende Erkenntnis zu Recht lautet: „Farbe ist das relativste Medium in der Welt.“8 Während Albers` berühmte, in den 1950er Jahren begonnene Werkserie „Homage to the Square“ sich keineswegs in der Untersuchung der recht einfachen Quadratschemata erschöpft, sondern der Künstler diese Schemata als konstante, formale Versuchsanordnungen zur Beschäftigung mit der Relativität der Farben im Verbund nutzt, um Farbbeziehungen zu veranschaulichen1, sind bei Christian Rudolphs „Tektoniten“ die Beziehung je einer einzigen Farbe zu der sie tragenden plastischen Form ein zentrales Thema. Rudolph verabsolutiert mittels der Monochromie die Beziehung zwischen Farbe und Form eines jeden Wandobjekts. Durch den Faltungsvorgang der zweidimensionalen Fläche in den dreidimensionalen Raum wird dieses Verhältnis wandelbar und in der Interaktion von Farbe, Licht und Raum immer wieder aufs Neue bestimmt. Hervorgerufen durch die gebogenen Oberflächen verändern sich die monochromen Farbflächen besonders bei natürlichem Seitenlicht, Farbveränderungen und -verläufe entstehen, wobei das Licht nicht reflektiert, sondern scheinbar aufgesogen wird. Mit der Bewegung des Betrachters im Raum verändert in seiner visuellen Wahrnehmung die Form des Bildträgers ihre Geometrie. Der sensuelle Faktor des Sehens fällt zusammen mit dem Erleben von Zeit, beziehungsweise dem Empfinden der Dehnung von Zeit. Als abstrakte Spuren in konvexen und konkaven Wölbungen ist Rudolphs „Tektoniten“ somit Dynamik anstatt Statik zu eigen, insofern sie dem Betrachter ein sukzessives Sehen anstatt eines schlagartigen Erkennens abverlangen. So verweisen Rudolphs „Tektonite“ allein auf sich selbst, sie zeigen nichts als die Wirklichkeit des Werkes, mit der sich der Betrachter konfrontiert sieht. Gleichzeitig vermitteln sie den prozessualen Verlauf ästhetischer Entscheidungen und verkörpern damit eine Position, die beispielhaft für die wenigen neuen konstruktiv-konkreten Positionen innerhalb der Kunst der Gegenwart steht.

Jan T. Wilms

  1. Hinsichtlich der Möglichkeiten seiner Verformung erweist sich Papier als ideales Material, um von der Fläche ausgehend dreidimensional zu arbeiten. Es lässt sich biegen, knittern, falten und eignet sich hervorragend, um Vorüberlegungen zu späteren Skulpturen modellhaft in Form zu bringen. In der Folge von Josef Albers` bekanntem Vorkurs am Bauhaus wurde diese Entdeckung, die heute selbstverständlicher Bestandteil jedes gestalterischen Unterrichts ist, Grundlage für die Entwicklung zahlreicher Faltschulen. Albers erfasst den Papierbogen in allen seinen Eigenschaften und Potenzialen: „Papier wird draußen (in Handwerk und Industrie) meist liegend und flach und geklebt verwendet, eine Seite des Papiers verliert dabei meist ihren Ausdruck, die Kante wird fast nie genutzt. Das ist uns Anlaß, Papier stehend, uneben, plastisch bewegt, beiderseitig und kantenbetont auszunutzen.“ (Josef Albers, Werklicher Formunterricht, in: Bauhaus Nr. 2/3, 1928, S. 4.)
  2.  Der Begriff der Tektonik wird nicht nur im geologischen Kontext verwendet, sondern bezeichnet auch die Lehre vom Zusammenfügen von Einzelteilen, besonders einzelner Bauteile zu einem Ganzen sowie die Lehre vom inneren Aufbau eines Kunstwerkes.
  3. Es ist anzunehmen, dass Tatlin, als er 1913 Picasso in Paris besuchte, die ‚Gitarre‘ sowie andere halbplastische Assemblagen und konstruierte Reliefbilder gesehen hat. Zurück in Moskau zeigte er bald darauf das von Picasso angeregte (heute zerstörte) Materialrelief ‚Stillleben mit Flasche‘, das aus geschnittenem und gefaltetem Metall bestand. (vgl. Reinhard Hohl, Naturalismus und Surrealismus, Tradition und Avantgarde, in: Georges Duby, Jean-Luc Daval (Hg.), Skulptur von der Renaissance bis zur Gegenwart, Köln 2006, S. 984 f.
  4. Naum Gabo, Antoine Pevsner, Das Realistische Manifest, 1920, zit. nach Margit Rowell, Skulptur im 20. Jahrhundert: Figur – Raumkonstruktion – Prozeß, München 1986, S. 283.
  5. Max Bill, konkrete kunst, in: Margit Weinberg Staber (Hg.), Konkrete Kunst. Manifeste und Künstlertexte, Zürich 2001, S. 32.
  6. Serras ‚Verb List‘ umfasst 90 transitive Verben, die mögliche Tätigkeiten eines Künstlers benennen und dabei die Beziehung zwischen Künstler und Werkstoff verdeutlichen. Ziel von Serras künstlerischer Arbeit ist es, die genannten Handlungen, darunter das Spritzen, Schneiden, Biegen und Rollen an bestimmten Materialien, vorzugsweise an Metallen oder Gummi auszuführen, um so deren qualitative Beschaffenheit und die Grenze der Transformierbarkeit aufzuzeigen. (vgl. Richard Serra, verb-list (1967-68), The Museum of Modern Art, New York.)
  7. Theo van Doesburg, Kommentare zur Grundlage der konkreten Malerei, in: ebd., S. 26 f.
  8. Josef Albers, zit. nach: Heinz Liesbrock (Hg.), Bewegte Stille, Josef Albers` Ekstase der Farbe, in: Malerei auf Papier. Josef Albers in Amerika, Ausst.-Kat. Museum Quadrat Bottrop, Ostfildern-Ruit, 2011, S. 36.